Nils Neumann, «Bewegungen im Dreieck: Heil als Begegnung im erzählten Raum des lukanischen Sonderguts.», Vol. 97 (2016) 375-394
The Lukan Sondergut develops its soteriology by narrating encounters inside a triangular spatial structure. Several important pericopae make use of a recurring scheme: salvation takes place in the encounter between the sinner and Jesus/God. The Pharisees who distance themselves therefrom are called upon to learn a lesson from the sinners and to share in the joy that results from the return of the lost one.
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iii. bewegung und begegnung
bei der Distanz zwischen den Eckpunkten A und b des Dreiecks
bleibt es nicht. Die Kernhandlung aller fünf hier zur Diskussion ste-
henden textabschnitte beschreibt eine Annäherung. Die zuvor vonein-
ander distanzierten Figuren bewegen sich aufeinander zu. Es kommt
zu einer begegnung, für welche das haus (oi=koj) einen besonders ge-
eigneten Schauplatz abgibt 23. Angesichts der zuvor etablierten Grenze
kommt es mit der begegnung also auch zu einer Grenzüberschreitung.
Lotman nutzt die Frage nach der Grenzüberschreitung, um in narrati-
ven texten Wesentliches von unwesentlichem zu unterscheiden: Nur
dort, wo eine Grenze durchbrochen und damit geltende Normen ver-
letzt werden, spricht Lotman von einem „Ereignis“ im Erzählverlauf
des texts 24.
Die Episode von der Salbung Jesu durch die Sünderin beginnt mit
der Einladung des Pharisäers (7,36), der Jesus folgt (eivselqw,n), und
spielt sich von hier an durchgehend in dessen haus ab. An diesem Ort
ergreift nun die Sünderin die initiative. ihre Annäherung an Jesus wird
nicht explizit erwähnt, sondern die Leserschaft ist unmittelbar mit der
durch sie hergestellten Nähe zu Jesus konfrontiert. Allerdings fokus-
siert die erzählerische Einführung der Figur diese schrittweise im er-
zählten raum. zunächst verortet der text die Sünderin vage „in der
Stadt“ (V. 37), und daraufhin ist sie plötzlich am Schauplatz des Ge-
schehens präsent. An der reaktion des Pharisäers (s.u.) lässt sich able-
sen, dass ihre Anwesenheit an diesem Ort zumindest unerwartet wenn
nicht gar unerwünscht ist 25. Die räumliche Nähe wird sodann detail-
reich narrativ ausgestaltet: Die Frau nimmt körperlichen Kontakt zu
Jesus auf. Da Jesus im haus des Pharisäers zu tisch liegt 26, kann die
Sünderin am einfachsten seine Füße berühren: Diese befeuchtet sie mit
ihren tränen, trocknet sie mit ihren haaren, küsst und salbt sie (V. 38).
23
Vgl. hierzu auch die beobachtungen von iNSELMANN, Freude, 304 hinsichtlich
der bedeutung des oi=koj in allen drei Gleichnissen von Lukas 15 und in Lukas 19.
inselmann (Freude, 328) spricht vom „haus ... als Ort der Gemeinschaftsbildung“.
24
Vgl. LOtMAN, Struktur, 332-334.
25
So auch EcKEY, Lukasevangelium i, 359. Dagegen deutet VON bENDEMANN,
„Liebe“, 167 die Frau als hetäre und merkt an, dass die Anwesenheit einer solchen
Frau bei einem antiken Gastmahl nichts ungewöhnliches darstellt. So gesehen
würde sich der implizite Einwand des Gastgebers nicht gegen die Präsenz der Frau
an sich wenden, sondern eher dagegen, dass sie sich Jesus in unangemessener
Weise nähert.
26
Vgl. dazu auch bOVON, Evangelium i, 390; EcKEY, Lukasevangelium i, 359.