Andreas Scherer, «Vom Sinn prophetischer Gerichtsverkündigung bei Amos und Hosea», Vol. 86 (2005) 1-19
Recently it has been proposed that announcements of judgment,
like the ones to be found in the minor prophets Amos and Hosea, on principle are
to be considered as vaticinia ex eventu. Even the traditions of
salvation, employed to reinforce different kinds of reproach, are held to be the
work of learned redactors. However, these hypotheses are supported neither by
the evidence from the ancient Near East nor by the logic underlying prophetical
proclamations of judgment themselves, for sheer announcements of punishment
could only be meaningless in times of doom as well as during periods of
recovery. Old Testament prophecy of doom is no complete stranger among the
religions of the ancient Near East. It owes its uniqueness not to the kind or
genus, but only to the complexity of its message.
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den Hörern die Möglichkeit zu eröffnen, das bevorstehende Unheil zu
akzeptieren. Indessen sind die Propheten weder darauf aus, das Ver-
halten ihrer Zeitgenossen zu ändern noch die kommende Katastrophe
abzuwenden. Anders urteilt Reventlow. Nach seiner Auffassung stellt
selbst die härteste Gerichtsprophetie ein “Angebot†(4) des in seiner
Gnade souveränen Gottes dar. Das nähert die Scheltrede ihrer Funk-
tion nach dem Mahnwort an, und die Unheilsansage gewinnt den
Charakter einer ultimativen Verwarnung. Wie ein Kompromiß er-
scheint die von Koch vertretene Position, der prophetisches Denken
mit einer Ellipse vergleicht (5), die um zwei Brennpunkte, nämlich die
Lagebeschreibung und die Zukunftsprognose, kreist (6).
Die bisher skizzierte Debatte setzt voraus, daß in Israel, begin-
nend mit Amos, gefolgt von seinem nur wenig jüngeren Zeitgenossen
Hosea, Propheten aufgetreten sind, die Künder von Unheil und Ge-
richt waren, die eine Katastrophe kommen sahen, bevor sie sich er-
eignete.
Diese Sicht der Dinge wird inzwischen unter anderem von Kratz
radikal in Frage gestellt (7).
Er differenziert viel stärker als die bisherige exegetische Tradition
zwischen Prophetenwort und Prophetenbuch (8). Das Prophetenbuch
trägt das Prophetenwort nicht nur weiter, dehnt es in seiner Bedeu-
tung aus und kontextualisiert es neu, sondern gibt ihm eine ganz an-
dere Richtung. Gerichtsverkündigung begegnet nicht bei Amos, Ho-
(4) H. GRAF REVENTLOW, Rechtfertigung im Horizont des Alten Testaments
(BEvTh 58; München 1971) 52.
(5) Vgl. KOCH, Profeten, 21.
(6) Vgl. KOCH, Profeten, 143.
(7) Vgl. R.G. KRATZ, “Die Redaktion der Prophetenbücherâ€, Rezeption und
Auslegung im Alten Testament und seinem Umfeld (Hrsg. R.G. KRATZ – T. KRÜ-
GER) (OBO 153; Fribourg – Göttingen 1997) 9-27; DERS., “Erkenntnis Gottes im
Hoseabuchâ€, ZThK 94 (1997) 1-24; DERS., “Das Neue in der Prophetie des Alten
Testamentsâ€, Prophetie in Israel. Beiträge des Symposiums «Das Alte Testament
und die Kultur der Moderne» (Hrsg. I. FISCHER et al.) (Altes Testament und Mo-
derne 11; Münster et al. 2003) 1-22; DERS., “Die Worte des Amos von Tekoaâ€,
Propheten in Mari, Assyrien und Israel (Hrsg. M. KÖCKERT – M. NISSINEN)
(FRLANT 201; Göttingen 2003) 54-89. Ähnliche Tendenzen finden sich in der
Forschung auch bezogen auf Jesaja. Vgl. dazu vor allem U. BECKER, Jesaja – von
der Botschaft zum Buch (FRLANT 178; Göttingen 1997); DERS. – M. KÖCKERT –
J. BARTHEL, “Das Problem des historischen Jesajaâ€, Prophetie in Israel. Beiträge
des Symposiums «Das Alte Testament und die Kultur der Moderne», 105-135
(117-124).
(8) Vgl. KRATZ, Amos, 60-65.