Hermann-Josef Stipp, «Zwei alte Jeremia-Erzählungen: Jeremia 28 und 36. Fallstudien zum Ursprung der Jeremia-Erzähltradition», Vol. 96 (2015) 321-350
Jeremiah 28* and 36* bear signs of having been composed during the prophet's lifetime. These stories depict incidents that had the potential to severely damage the prophet's reputation among the Judean public: clashes with powerful opponents from which Jeremiah seemed to have emerged as the losing party. These early narratives served apologetic ends, providing Jeremiah's followers with an account of the incidents that stressed YHWH's support for his true prophet. The investigation confirms the theory that conflict on a broad variety of topics played a significant role in stimulating the growth of prophetic literature.
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der babylonischen Belagerung Jerusalems, die im 9. Jahr Zidkijas
anhob (2 Kön 25,1).
Für einen Ursprung zu Lebzeiten Jeremias spricht weiterhin die
Stilisierung der Protagonisten. Das Porträt Jeremias ist frei von
wunderhaften Zügen. Davon ist zwar, wie bei Prophetenerzählungen
unvermeidlich, der beanspruchte Offenbarungsempfang auszunehmen
(VV. 12-14; vgl. VV. 16 und 7a AlT), doch schon der prophetische
Zeichenakt mit den Jochbalken ist im Unterschied zu anderen Bei-
spielen 13 problemlos durchführbar und realistisch. Das mitgeteilte
Geschehen könnte sich so, wie beschrieben, abgespielt haben. Ferner
überliefert die Erzählung einen für Jeremia blamablen Vorfall ohne
Versuch der Beschönigung: Jeremia ficht mit einem Falschpropheten
einen Streit um die wahren Absichten JHWHs aus, und zwar vor aller
Augen an der Wohnstätte jenes Gottes, auf den sich beide Kontrahen-
ten berufen (2a.6b-d.11b.13c.14a; AlT 7a). Den fingierten Orakeln
seines Opponenten (VV. 2-4 und 11) kann Jeremia nur die geschicht-
liche Erfahrung (V. 8) und ein Kriterium zur Prüfung der Echtheit
von Heilsprophetie entgegenhalten (V. 9), aber keine JHWH-Rede 14.
Am Ende muss er ohne Erwiderung das Feld räumen und steht mithin
als Verlierer da (11d) 15. Aus der Warte des innertextlichen Publikums
behält Hananjas Verheißung das letzte Wort, zumal sie von einem
prophetischen Gegenzeichen unterstützt wird, das Jeremias Symbol-
handlung annulliert (VV. 10-11c). In einer fiktiven bzw. literarisch
stark stilisierten Darstellung hätte der Übergriff gegen den Sachwalter
JHWHs normalerweise umgehend beantwortet werden müssen 16.
13
Vgl. 13,1-11 und dazu H.-J. STIPP, “Jeremias Zeichenhandlung mit dem
leinenen Schurz (Jer 13,1-11). Methodische Erwägungen zur Identifikation
der deuteronomistischen Redaktion im Jeremiabuch”, in ID., Studien, 299-
323; ferner etwa auch 43,8-13.
14
AlT hat die Rede VV. 8-9 entsprechend einer für diese Texttradition
kennzeichnenden Tendenz nachträglich durch die Lesung hwhy rbd in der
Einleitung 7a in ein Gotteswort verwandelt; vgl. H.-J. STIPP, Das masoretische
und alexandrinische Sondergut des Jeremiabuches. Textgeschichtlicher Rang,
Eigenarten, Triebkräfte (OBO 136; Freiburg, CH – Göttingen 1994) 152.
15
Gegen die psychologisierende Erklärung, Jeremia habe sich aufgrund
zeitweiliger Unsicherheit über die Pläne JHWHs freiwillig zurückgezogen,
vgl. D. EPP-TIESSEN, Concerning the Prophets. True and False Prophecy in
Jeremiah 23:9 – 29:32 (Eugene, OR 2012) 179.
16
Vgl. z.B. 1 Kön 13,4-5; 2 Kön 1,9-12; 2,23-24; 7,2.17-20; Jer 20,1-6;
29,24-32; Am 7,12-17.